Im Netz und in der Literatur kursieren verschiedene Varianten zur traditionsreichen Geschichte des Christstollens. Viele davon reduzieren die komplexe Historie auf wenige Details, sind etwas einseitig oder widersprechen sich sogar. Das macht neugierig auf die historische Wahrheit. Weil ich in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre große Mengen vom oben abgebildeten Produkt weltweit verkauft habe (zeitweise sogar mit zusätzlicher Produktion in den USA), fühle ich mich dem Kulturgut Christstollen – ein sogenanntes Gebildbrot – verpflichtet und bin für die interessierten Leser dieses Blogs dazu tief eingestiegen. Hier also sämtliche historisch belegbaren Fakten zur Geschichte des Christstollens. Ich empfehle, sich vorher einen Tee zu machen…
Ursprünglich basiert der Christstollen auf den keltischen Opferbroten, welche mit der Christianisierung (hierzulande im 8. bis 10. Jahrhundert nach Christus) von den mittelalterlichen Klosterbäckereien übernommen wurden. Die erste urkundliche Erwähnung des Stollens erfolgte sschon vor rund 700 Jahren, doch vermutlich ist das Gebäck noch weitaus älter – wobei der frühere Stollen mit dem heutigen nur die Form verbindet, nicht die Rezeptur.
Zur Herkunft des Wortes „Stollen“ gibt es vier Theorien. So soll der Name „Stollen“ manchen Quellen nach von einer Ableitung des Wortes „Stulle“ kommen, was für „Stück“ steht. Andere vermuten eine Ableitung des Wortes „Stulno“, was soviel wie „groß und mächtig“ bedeutet. Demnach hätte der Stollen die Bedeutung „mächtiger Festkuchen“. Eine dritte Version geht davon aus, dass der „Stollen“ die Stützen der Wiege des Christkindes meint – was aber unwahrscheinlich ist, weil dieses nicht in einer Wiege lag, sondern laut der Bibel in einer Krippe. Die verbreitetste Theorie vermutet eine Wortherkunft aus dem Bergbau, wo der „Stollen“ (althochdeutsch: Stollo) einen tragenden Pfosten meint. Damit sollte im christlichen Glauben die tragende Kraft Jesu symbolisiert werden. Aus den historischen Quellen lässt sich die tatsächliche Herkunft des Wortes nicht eindeutig erschließen, so dass jede der Theorien richtig sein kann oder auch nicht.
Der Stollen war damals in jedem Fall aber eine Fastenspeise, die in der Fastenzeit vor Weihnachten gebacken wurde. Wie andere Gebäcke, die zu Festen des Kirchenjahres in bestimmten Formen hergestellt und verzehrt wurden, gehört der Stollen zu den sogenannten Gebildbroten. Weitere bekannte Gebildbrote sind die Brezel (hier nachlesen), das Osterlamm, der Hefezopf oder der Stutenkerl, der je nach Region auch Weckmann, Klausenmann, Grättimaa, Dambedei, Krampus o.ä. heißt.
Alle Gebildbrote haben Formen aus der christlichen Symbolik. Die traditionelle Form und das weiße Äußere des Stollens stellt eine Versinnbildlichung des in Windeln gewickelten Jesuskindes dar. Daher auch die Bezeichnung „Christstollen“. Davon unbenommen ist, dass Christstollen heute in verschiedenen Formen angeboten werden, je nach Art der Aufarbeitung und des Backens. In Dresden wird der Stollen länglich wie ein Brot aufgearbeitet, vor dem Backen eingeschnitten und dann ohne Backform gebacken. Auch das Flachdrücken des Teiges unter Verwendung eines Stollenholzes gehört zu den traditionellen Methoden der Formung des Stollens. Der flachgedrückte Teig wird anschließend überlappt. Es werden auch Stollenhauben verwendet, die über den länglich gerollten Teig gestülpt werden. In Kastenverbänden backen die Stollen hingegen über Kopf.
Im Jahr 1329 hat Bischof Heinrich I. von Grünberg den Bäckern in Naumburg die Herstellung von Stollen als neues Zunftprivileg erteilt, unter der Bedingung, dass ihm „zwey lange weyssene Brothe, die man Stollen nennet“ (zwei lange, weiße Brote, die man Stollen nennt) aus je einem halben Scheffel Weizen zum Fest geliefert wurden. Der genannte Text entspricht einer Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert. Die Original-Urkunde wurde ursprünglich in lateinischer Sprache verfasst und ist verschollen.
„Scheffel“ ist ein altes Raummaß, welches vor allem für Getreide angewandt wurde. Je nach Region in Deutschland konnte ein Scheffel Weizen 17,38 Liter bis 310,25 Liter umfassen. In Naumburg, damals in Preußisch Sachsen und heute in Sachsen-Anhalt gelegen, beinhaltete ein Scheffel damals 77,12 Liter. Ein Liter Mehl sind etwa 700 g, hieraus bekommt man gut 1 kg Stollen damaliger Art. Somit bekam der Bischof zu jedem Fest wohl zwei Stollen von je knapp 40 kg Gewicht. Das Zunftprivileg für die Naumburger Bäcker vor knapp 700 Jahren lässt darauf hindeutet, dass Naumburg die erste Hochburg der Stollengeschichte war. Rezepte aus der Ursprungszeit wurden jedoch nicht überliefert. Der Naumburger Stollen konnte sich als Marke historisch auch nicht durchsetzen.
Die Stollen der damaligen Zeit hatte als Fastengebäck mit dem heutigen Festgebäck wenig gemeinsam. Denn in der 40 Tage dauernden Fastenzeit vor Weihnachten waren tierische Produkte streng verboten, somit auch die Milch und die Butter. Stollen durften nur aus Mehl, Wasser und „Rüböl“ (Rapsöl) gebacken werden. Der Ursprungsstollen war also eher eine Art fetthaltiges Brot und diente wohl dazu, die kargen Fastenwochen, in denen ja auch Fleisch und Eier verboten waren, in den ohnehin nicht üppigen Zeiten zu überleben.
Fast immer liest man in der Geschichte des Christstollens auch von „Hefe“ als weiterer Zutat zu den Stollen damaliger Fastenzeiten, was zu den von Geschichte zu Geschichte übertragenen Mythen gehört, jedoch nicht korrekt sein kann. Denn die Details der Gärung und die Funktion der Hefe darin waren noch lange unbekannt. So setzte die französische Akademie der Wissenschaften im Jahr 1799 einen Preis in Form eines Kilobarren Goldes für den Wissenschaftler aus, der die Geheimnisse der Gärung aufklärt – vergeblich. Die Hefe wurde erst im Jahr 1857 durch den Chemiker Louis Pasteur entdeckt und noch viel später in Hefefabriken kultiviert. Man bediente sich bis dahin den wilden, überall in der Natur vorkommenden Hefen (ohne um diese zu wissen) und versuchte, den Teig zum Fermentieren zu bringen, was durch die Erfahrung der Bäcker meist gelang. Jedoch besagt ein alter Bäckerspruch aus dieser Zeit: „Backen und Brauen gelingt nicht immer“. Insofern kann man mit Gewissheit sagen, dass die Hefe damals noch nicht im Stollenrezept stand.
Die Entwicklung vom sehr mageren Fastengebäck zum reichhaltigen Festgebäck wird später einer Persönlichkeit zugeschrieben, zu der ich jetzt komme.
Heinrich Drasdo war zu Beginn des 15. Jahrhunderts Hofbäcker auf Schloss Hartenfels in Torgau. Auf Bitten seiner Fürsten aus der Wettin-Dynastie schuf er ungefähr im Jahr 1429 den wohl ersten Stollen heutiger Art, als schwerer Hefeteig mit Butter, Rosinen, sowie Zitronat und Orangeat, bestrichen mit ausgelassener Butter und gewälzt in Zucker, der ebenso wie die eingesetzten Gewürze sündhaft teuer war. Drei Kilogramm Zucker kosteten damals so viel wie ein ganzes Rind. Das Gebäck von Heinrich Drasdo wurde Drasdoer Stollen genannt und war in Kreisen des Adels wohl sehr berühmt. Somit war Torgau damals eine Hochburg des Christstollen. Wegen der reichhaltigen Rezeptur und der Namensähnlichkeit gilt der Drasdoer Stollen als historischer Vorläufer des Dresdner Stollens.
Das üppige Festgebäck des Fürsten war allerdings ein Verstoß gegen die christlichen Fastenregeln und durfte daher erst nach der Fastenzeit zum heiligen Fest gebacken werden. Deshalb wandte sich Kurfürst Friedrich II. der Sanftmütige im Jahr 1430 an Papst Nikolaus V. (1397-1455) mit der Bitte, dem Adel im Kurfürstentum Sachsen das reichhaltige Festgebäck zu genehmigen. Begründet wurde dies u.a. damit, dass der darin enthaltene Zucker eine wirksame Arznei sei, die das Fieber senke, welches bei der Jagd durch den Wolfsbiss drohte. Nachdem Papst Nikolaus V. das Gesuch ablehnte, versuchten die verschiedenen Wettiner Fürsten es nacheinander bei Papst Kalixt III. (1378-1458), Papst Pius II. (1405-1464), Papst Paul II. (1417-1471) und Papst Sixtus IV. (1414-1484), in allen Fällen erfolglos.
Vielfach wird die Geschichte des Christstollens diesbezüglich nicht ganz korrekt dargestellt. Es war keinesfalls nur ein Fürst und ein Papst mit der Genehmigung der Butter statt des Rüböls befasst, sondern eine ganze Reihe. Die meisten davon ohne Ergebnis, wie dargestellt.
Die jahrzehntelangen Bittgesuche der Wettinger Fürsten wurden auch durch Kurfürst Ernst von Sachsen (1441–1486) und seinen Bruder Albrecht der Beherzte (1443–1500) fortgesetzt. Beide schickten im Jahr 1470 ein Gesuch an Papst Innozenz VIII., in dem sie darum baten, zumindest das oft tranige Rüböl im „Christbrot“ durch Butter ersetzen zu dürfen. Ein ähnliches Gesuch sollen auch die Münchner Bäcker im Jahre 1479 an den Papst gerichtet haben. Diese Wünsche blieben lange ungehört, so wie bei den vielen Päpsten zuvor. Erst mit Brief vom 10. Juli 1491, ganz am Ende seines Pontifikats, hat Papst Innozenz VIII. dem Gesuch entsprochen und die Fastenvorschriften gelockert, mit folgenden Worten:
„Sintemahl nun, daß euretwegen für uns vorgegeben , daß in Euren Herrschaften und Landen keine Oehlbäume wachsen und daß man des Oehls nicht genug, sondern viel zu wenig und stinkend habe, daß man dann teuer kaufen muss, oder solches Oehl allda habe, das man aus dem Rübsenoehl mach, daß der Menschen Natur zuwider und ungesund, durch dessen Gebrauch die Einwohner der Lande in mancherlei Krankheit fallen. Als sind wir in den Dingen zu eurer Bitte geneigt und bewilligen in päpstlicher Gewalt, in Kraft dieses Briefes, daß ihr, eure Weiber, Söhne, Töchter und all eure wahren Diener und Hausgesinde der Butter anstatt des Oehls ohne einige Pön (Anm.: Buße, Strafe) frei und ziemlich gebrauchen möget.“
Dieses Schreiben ging als Butterbrief in die Geschichte des Christstollens ein, galt aber nicht nur für dieses Gebäck. Die Genehmigung wurde an die Bedingung geknüpft, jährlich des zwanzigsten Teil eines Goldgüldens zugunsten des Neuaufbaus des Freiberger Doms zu zahlen, der während eines großen Stadtbrandes im Jahr 1484 fast völlig zerstört wurde.
Als Sachsen ab dem Jahr 1539 evangelisch wurde, fiel das Butterverbot gänzlich weg. Laut einem Beitrag der ehemaligen Leiterin des Museums der Brotkultur in Ulm Irene Krauss sollen auch die Münchner Bäcker auf ihr Gesuch hin einen Butterbrief von Papst Innozenz VIII. erhalten haben.
Siebenlehn ist eine Gemeinde, die ca. 35 km westlich vom Dresden Zentrum liegt und heute zur Stadt Großschirma gehört. Damals hatte Siebenlehn eigene Stadtrechte. Die Weißbäcker von Siebenlehn waren im Mittelalter weithin für ihren Stollen bekannt, wie verschiedene historische Quellen belegen. Das „Christbrot“ aus Siebenlehn bekam nicht nur der Amtmann aus dem nahen Nossen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bekam sogar jeder Ratsherr in Dresden zu Weihnachten zwei Stollen aus Siebenlehn überreicht. Nach Naumburg und Torgau gilt Siebenlehn als nächste historische Hochburg der Christstollen-Geschichte.
Der gute Ruf des Siebenlehner Stollens und die Geschäftstüchtigkeit der „Weißbäcker und Plaßbäcker“ von dort missfiel den Bäckern aus Meißen, so dass es im Jahre 1615 zu einem ernsthaften Streit kam, der als „Siebenlehner Bäckerkrieg“ oder auch „Stollenkrieg“ in die Geschichte einging. Über den „erbitterten Meißner-Siebenlehner Weißbäckerstreit“ findet sich in meiner Sammlung historischer Bücher das Werk „Vom königlichen Kindlein. Geschichte um den Christstollen“ aus dem Jahr 1938 und darin folgender Text:
„Daß Siebenlehner Gebäck war weithin rühmlich bekannt. Die Siebenlehner Stollenfrau mit ihrer Kiepe auf dem Rücken, der Siebenlehner Botenfuhrmann mit den länglichen Kisten pochten an manche Tür. Das mißfiel den Meißner Bäckern, die von den Hausfrauen keine Aufträge bekamen, indes die Siebenlehner das Gold nur so schaufelten.“
Die Meißner Bäcker wehrten sich u.a. mit Brandfackeln gegen die unliebsame Konkurrenz, doch noch während des Dreißigjährigen Kriegs (1618 bis 1648) belieferten die Bäcker aus Siebenlehn die von den Schweden belagerte Stadt Meißen. Auf diesem Weg kam die Stollenrezeptur der Überlieferung nach auch in die kurfürstliche Residenz und zu den Dresdner Bäckern.
Auch in Dresden bekamen die Siebenlehner Bäcker Probleme. Die Dresdner Bäcker beschwerten sich im Jahr 1663 beim Kurfürsten, „daß die Bäcker zu Siebenlehn zur Weihnachtszeit gar große Fuder Backwerks nach Dresden brächten.“
Bald nach dem Westfälischen Frieden flammte der Stollenkrieg zwischen Meißen und Siebenlehn wieder auf, während die Dresdner Bäcker im Jahr 1648 von ihrem Fürsten das ersehnte Stollenmonopol erhielten. Fortan durften auswärtige Bäcker zur Zeit des Striezelmarktes nicht mehr in die Stadt Dresden hinein. Die Dresdner Bäcker erhielten zudem das Recht, mit ihrem feinen Backwerk den kurfürstlichen und später den königlichen Hof zu beliefern. Das Stollenmonopol im Jahr 1648 war somit eine wichtige Weichenstellung für die Dresdner Bäcker.
Das „Große Campement bei Mühlberg“, heute als Zeithainer Lustlager überliefert, war eine Truppenschau von August dem Starken, welche vom 31. Mai bis zum 28. Juni 1730 bei Zeithain nördlich von Riesa stattfand. Eine wahrhaft riesige Ausgabe wartete dort auf den Bäckermeister Johann Andreas Zacharias und seine 60 Bäckerknechte. Aus 3.600 Eier, 326 Kannen Milch sowie einer Tonne Weizenmehl galt es einen Riesenstollen von 36 Zentnern Gewicht (also 1.800 kg) zu backen. Das Ergebnis war der Überlieferung nach 18 Ellen lang (ca. 7 Meter), 8 Ellen breit (ca. 3 Meter) und 30 Zentimeter dick. Der Stollen wurde in einem eigens dafür vom berühmten Barock-Baumeister Matthäus Daniel Pöppelmann gebauten Ofen gebacken und vom Backhaus am Mühlberg aus auf einem von acht Pferden gezogenen Wagen in Augusts Lager gebracht. Dort wurde der erste Riesenstollen der Geschichte mit einem großen, eigens hierfür hergestellten Messer angeschnitten, in 24.000 Portionen aufgeteilt und an die Gäste ausgegeben. Dieses historische Ereignis stellen die Dresdner Bäcker seit dem Jahr 1994 jährlich mit einem Riesenstollen nach, der zum Stollenfest durch die Stadt gezogen und auf dem Striezelmarkt verkauft wird. Dazu später mehr.
Die Qualität des Stollens und damit dessen Beliebtheit hing stets von dessen Rohstoffen ab – so ist es bis heute! Damals waren gute Zutaten im Erzgebirge oft zu teuer für die überwiegend mittellose Bevölkerung. In der Folge wurde die Butter meist durch billigeren Rindertalg ersetzt. Im Vogtland nahmen die ärmeren Leute statt Butter häufig Gänseschmalz für ihren Stollen. Zucker war damals oft zu kostbar und fehlte ganz.
Einen Eindruck von der Qualität früherer Stollen vermittelt ein Vermerk des Pastors Thomas Winzer aus dem sächsischen Wolkenstein aus dem Jahr 1700, der den Stollen als ein „gar trockenes Stopfgebäck in Wickelkindform“ und als „Gebäck, mit ein paar einsamen Rosinen darin, freundlichen Oasen gleich“ beschrieb. Erst aus den Jahren danach sind in Leipziger und Berliner Lexika ausführliche Butterstollenrezepte mit feinen Zutaten in großzügigen Mengen zu finden.
Noch zu Zeiten der DDR war für die dortigen Bäcker die Beschaffung von Zutaten für das Stollenbacken angesichts der Mangelwirtschaft schwierig. Dort musste die Butter gleichsam oft ersetzt werden. Auch andere Zutaten wie z.B. das Zitronat waren meist nicht zu kriegen. Hierfür wussten sich die kreativen Bäcker mit grünen, unreifen Tomaten zu behelfen, die eins zu eins mit Zucker kandiert wurden.
Der Dresdner Stollen trat in der Geschichte des Stollens erst später in Erscheinung. Wie dargestellt, waren zuvor die Stollen aus Naumburg, Torgau, Siebenlehn und Meißen populär. Doch auch in Dresden hat der Stollen eine große Tradition, wie nachfolgend dargestellt. Historisch gesehen wurde der Dresdner Stollen „Striezel“ genannt. Schon seit dem Jahr 1434 findet auf dem Altmarkt in Dresden der Striezelmarkt statt, als ältester Weihnachtsmarkt Deutschlands.
Im Jahr 1474 wird in Dresden erstmals ein weihnachtliches „Christbrot“ urkundlich erwähnt, auf einer Rechnung des christlichen Bartolomai-Hospitals, wie folgt: „Item 7 gr vor zewey Christbrot den armen luten uff wynachten“. Übersetzt: „Ebenso sieben Groschen für zwei Christbrote für die armen Leute zu Weihnachten“. Im Jahr 1496 waren die „Christbrote uff weihnachten“ in der Stadt Dresden schon so populär, dass man sie als Handelswaren auf allen Märkten verkaufte. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1560, hat der Dresdner Bürgermeister sich entschlossen, seine Ratsherren „inn dy strutzel zcu laden“, also zu einem weihnachtlichen Striezelessen auf Kosten der Stadt.
Ebenfalls ab dem Jahr 1560 wurden den jeweiligen Fürsten jährlich Christstollen zum Weihnachtsfest geschenkt. Immer am zweiten Weihnachtstag fand hierzu eine Zeremonie statt, bei dem jeweils ein 36 Pfund schwerer Stollen von acht Meistern und acht Gesellen durch Dresden bis zum Schloss getragen wurde.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts bekam jeder Dresdner Ratsherr zu Weihnachten zwei Stollen geschenkt – allerdings nicht den Dresdner Stollen, sondern damals noch Christstollen aus Siebenlehn. Nachdem die Dresdner Bäcker lange beklagten, dass die Konkurrenz aus der Stadt Siebenlehn „fuderweise“ Stollen nach Dresden bringt und dort verkauft, wurde den Dresdner Bäckern im Jahr 1648 das Privileg erteilt, ihre Stollen auf dem Striezelmarkt ganz alleine verkaufen zu dürfen. Dies gilt als wichtiger Impuls für die heutige, enorme Bekanntheit des Dresdner Stollens.
Im Jahr 1694 schuf der neue sächsische Kurfürst August der Starke das Privileg der Bäcker, Umzüge zu halten. 1727 ließ er das Gebäck zur Weihnachtszeit an seinem Hofe reichen. Damit wurde der Stollen bei Hofe und in jenen Kreisen, welche sich die kostbaren Zutaten leisten konnten, gesellschaftsfähig. In den folgenden Jahrhunderten wurde der Stollen mehr und mehr zum kulinarischen Botschafter Dresdens. Gebacken wurde er sowohl von den Bäckern als auch von den Hausfrauen. Die Dresdnerinnen gaben ihren in Tücher gewickelten Stollen auch den Fuhrleuten und Elbschiffern mit, um die Söhne in der Ferne zu beglücken. Später versandte man das in Blechdosen eingelötete Backwerk auch an Auswanderer in den USA oder Australien.
Der Mythos des Dresdner Christstollens wurde vermutlich durch das bereits oben genannte, 1938 erschienene Buch Vom königlichen Kindlein. Geschichte um den Christstollen von Lenelies Pause begründet. In der Folge entwickelte sich „Dresdner Stollen“ oder „Christstollen Dresdner Art“ zur Standardbezeichnung für reichhaltige Rosinenstollen in allen Bäckereien Deutschlands. Dies galt auch für die Bäcker der späteren Bundesrepublik Deutschland, die fleißig Dresdner Stollen backten – während die Dresdner Bäcker selbst in der DDR lange Zeit größte Mühe hatten, Stollen in angemessener Qualität herzustellen. Denn aufgrund der Mangelwirtschaft in der DDR standen Zutaten oft nicht zur Verfügung. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das oft fehlende Zitronat, das kurzerhand durch kandierte, grüne Tomaten ersetzt wurde.
Bei den Verhandlungen zur Deutschen Einheit in den Jahren 1989/1990 konnten die Vertreter der DDR erfolgreich durchsetzen, dass die Bezeichnung „Dresdner Stollen“ auf für im Raum Dresden gebackene Stollen beschränkt wird – auch dies eine Initialzündung für den heutigen Erfolg des Dresdner Stollens. Dieses Gebiet erstreckt sich vom Sächsischen Elbland mit Weinböhla, Moritzburg und Radebeul bis in die Sächsische Schweiz nach Heidenau und Pirna. Im Norden markieren Ottendorf-Okrilla und Radeburg, im Osten Radeberg und im Süden Freital das Schutzgebiet, in dem der Dresdner Stollen gebacken werden darf. Hierüber wacht der von den Dresdner Bäckern im Jahr 1991 gegründete Schutzverband Dresdner Stollen e.V.
Die Bezeichnungen „Dresdner Stollen“, „Dresdner Christstollen“ und „Dresdner Weihnachtsstollen“ wurde seit dem Jahr 1996 durch den Schutzverband markenrechtlich geschützt, der derzeit die Interessen von derzeit rund 110 Bäckereien vertritt. Diesem Beispiel folgte u.a. der Stollenverband Erzgebirge e.V., der seit dem Jahr 2011 über die geschützte Marke „Erzgebirgischer Weihnachtsstollen“ wacht. Auch der Schutzverband Thüringer Stollen und Erfurter Schittchen e.V. bemüht sich um die Vermarktung der jeweiligen Spezialitäten. Im Jahr 2010 wurde der Dresdner Stollen auf Antrag Deutschlands auch als geschützte geographische Herkunftsangabe nach europäischem Recht eingetragen.
Für den Dresdner Stollen gibt es kein einheitliches Rezept, sondern verschiedene Hausrezepturen der Bäckereien in Dresden. Gemäß den Produktspezifikation des Schutzverbands dürfen Dresdner Stollen jedoch nicht in Formen gebacken werden und müssen auf 100 Teile Mehl mindestens 50 Teile Butter, 65 Teile Sultaninen, 20 Teile Orangeat und/oder Zitronat und 15 Teile Mandeln enthalten.
Im Jahr 1994 haben die Dresdner Bäcker (in der Tradition des Zeithainer Lustlagers und anlässlich der 300. Wiederkehr der Thronbesteigung des sächsischen Kurfürsten August des Starken am 27. April 1694) einen Riesenstollen mit 2.000 kg Gewicht hergestellt. Dieser wurde nach einem Umzug auf dem Striezelmarkt mit einer Nachbildung des Originalmesser in 4.000 Portionen aufgeteilt und verkauft. Seitdem wird jährlich (außer 2020 wegen Corona) am Samstag vor dem 2. Advent ein Stollenfest gefeiert, bei dem auch ein Riesenstollen durch die Stadt gefahren wird. Das Gewicht des Riesenstollens wurde hierbei stetig gesteigert und ist auf zuletzt 3,9 Tonnen angewachsen. Er wird aus einzelnen Stollenplatten zusammengesetzt, die von den Dresdner Bäckereien gebacken werden.
Nachdem die damals sehr berühmten Stollen aus Naumburg, Siebenlehen, Meißen oder Torgau heute nicht mehr als Marke am Markt präsent sind, halten viele den Dresdner Stollen für das historische Original. Dieser Umstand hat zu einer enormen Bedeutung des Stollens für die Dresdner Bäcker geführt. Im Jahr 2012 nannte der BILD-Journalist Dr. Jürgen Helfricht die vom Schutzverband erzählte Geschichte des Dresdner Stollens sogar einen „Schwindel“. De facto handelt es sich aber um eine kluge Form der Markenpflege, im Marketingdeutsch auch Storytelling genannt. Die heutige Bekanntheit und der große wirtschaftliche Erfolg des Dresdner Stollens, der im Durchschnitt schon über 30 % des dortigen Jahresumsatzes der Bäckereien ausmachen soll, gibt den Dresdner Stollenbäckern und ihrem Schutzverband aus meiner Sicht recht. Durch sehr gute Marketing- und Lobbyarbeit ist es ihnen gelungen, dass der Dresdner Stollen heute sogar eine Art Botschafterfunktion für das Bäckerhandwerks und die deutsche Backwarenkultur hat. Besonders bemerkenswert finde ich, dass dieser Erfolg nicht auf der Arbeit einzelner Personen, sondern auf der Geschlossenheit und Gemeinschaft aller Dresdner Bäcker und deren Verbände beruht. Wieder einmal zeigt sich: Gemeinsamkeit macht stark!
Die Herstellung von Christstollen mit Früchten und Gewürzen gehört heute zum festen Jahreslauf der meisten Bäckereien im deutschsprachigen Raum und vereinzelt sogar in Übersee, durch den Einfluss reisender Bäckermeister aus Deutschland. Neben dem Dresdner Stollen werden auch die Erzgebirgischen Stollen auf traditionelle Weise gebacken, ebenso die Bremer Klaben und die Erfurter Schittchen. Alle diese Bezeichnungen sind markenrechtlich geschützt. Den klassischen Rosinenstollen nach historischem Vorbild von Heinrich Drasdo findet man jedoch überall im deutschsprachigen Raum, unter Bezeichnungen wie z.B. „Butterstollen“ oder „Traditionsstollen“ oder einfach „Christstollen“.
Ergänzend zur traditionellen Rezeptur sind in den letzten Jahrzehnten unglaublich kreative Variationen von Stollen entstanden, die mit dem traditionellen Christstollen oft nur noch die Form verbindet. Vielfach entsprechen die neuen Sorten nicht den Stollendefinitionen der Leitsätze für Feine Backwaren, so dass hier „Feine Backware“ ergänzend auf dem Preisschild stehen muss, doch die Akzeptanz der sehr aufgeschlossenen Kunden gibt den kreativen Bäckern recht. Diese freuen sich über eine riesige Vielfalt an Stollen aus unterschiedlichsten Weizensorten (z.B. auch Dinkel) und Vermahlungsarten (auch Vollkorn), Getreidesorten, Fetten (auch vegan), Mandeln, Nüssen, Gewürzen, Früchten, (getränkt in verschiedensten Alkoholika) im Markt. Die traditionelle Veredelung mit Puderzucker außen wird um vielerlei Varianten ergänzt, z.B. mit Marmelade und Mandelblättern, mit Fondant oder mit Kuvertüre.
Ein weiterer, spürbarer Baustein für die heutige Vielfalt ist für mich auch der folgende Umstand, den es hier zu würdigen gilt: Nachdem der industrielle Stollen im Handel lange zu billigen Preisen verramscht wurde und den handwerklichen Stollen mehr und mehr verdrängt hatte, schuf die Firma Meistermarken , die heute zum internationalen CSM-Konzern gehört, in den 1990er Jahren einen neuen Preis namens „Stollen-Oskar“. Aus markenrechtlichen Gründen heißt der Wettbewerb heute Zacharias-Preis, in Erinnerung an den Hofbäcker beim Zeithainer Lustlager und seinen Riesenstollen. Die Idee von Meistermarken war damals wohl, den Absatz der eigenen Margarine zu fördern, was nicht so recht geklappt hat. Stollen ist zwar mit bis zu 50 % Fettanteil auf das Mehlgewicht recht gehaltvoll, doch hier dominiert heute eindeutig die Butter. Umso schöner, dass dieser Preis von Meistermarken dennoch beibehalten wurde. Der Zacharias-Preis hilft den so ausgezeichneten Bäckereien in der Vermarktung ihrer Stollen sehr, wie ich als Gewinner der Jahre 1999, 2000, 2001 und 2003 aus eigener Erfahrung bestätigen kann. Nachdem ich durch Verleihung des „Ehren-Stollen-Oskar“ im Jahr 2003 selbst nicht mehr teilnehmen konnte, freut es mich umso mehr, dass „mein“ Stollen bei der Bäckerei Lohner eine Zeit lang weitergepflegt wurde und auch dort der Zacharias-Preis mehrfach gewonnen wurde.
Im Sinne des Storytellings lassen sich die Bäckereien heute sehr viel einfallen, um Aufmerksamkeit für ihre Stollen zu schaffen und diese erfolgreich zu vermarkten. Dies galt damals so auch für mich selbst. Als Maßnahme der Abgrenzung und Markenbildung habe ich im Jahr 2001 eine besondere Premium-Variante meines Christstollens in einem nahen Schieferbergwerk eingelagert, um diese einige Wochen unter Tage „reifen zu lassen“, mit großem Presse-Tamtam beim Anschnitt, zu dem ich einen Staatssekretär der damaligen Rheinland-Pfälzischen Landesregierung gewinnen konnte. Die Marke Stollen aus dem Stollen wurde im Jahr 2003 markenrechtlich für mich geschützt.
Nachdem ich mein Christstollen-Business seinerzeit verkauft habe, teile ich heute in den Angeboten der Akademie Deutsches Bäckerhandwerk Weinheim, die ich seit dem Jahr 2006 leiten darf, viele Erfahrungen. Dabei wird auch empfohlen, die von mir erprobten Form des Storytellings („Stollen reifen lassen“) zu nutzen und gebe hierfür konkrete Tipps. Dies wird in der Branche inzwischen umfangreich praktiziert. In vielen Bergwerken, aber auch Höhlen oder Keller von Schlössern, Burgen und Kirchen lagern vor der Adventszeit heute Christstollen eines ortsansässigen Bäckers, die später mit großem Erfolg und zu guten Preisen verkauft werden.
Um die Stollenvielfalt in handwerklichen Bäckereien medienwirksam zu unterstreichen, hat der Verband des Rheinischen Bäckerhandwerks im Jahr 2015 in Köln einen Weltrekord der Stollenvielfalt organisiert, nach dem Vorbild eines Brotweltrekords und eines Brötchen-Weltrekords, den ich zu Beginn der 2000er Jahre ehrenamtlich für den Verband organisiert hatte. Beim Weltrekord der Stollenvielfalt haben 250 Bäckereien über 300 verschiedene Stollen-Variationen präsentiert. Bei den jährlichen Qualitätsprüfungen des Deutschen Brotinstituts, das auch Stollen testet, finden die Prüfer des Deutschen Brotinstituts jedes Jahr neue, spannende Kreationen.
Auf Basis der vorgenannten Absätze kann man zusammenfassen, dass der heutige Christstollenmarkt sowohl traditionelle Wurzeln zitiert als auch innovative Sorten bietet. Sowohl in den Rezepturen als auch in den Vermarktungsformen wird hierbei einerseits sehr erfolgreich auf historische Grundlagen zurück gegriffen, wie z.B. in Dresden. Andererseits wird auch die große Welt möglicher Stollenzutaten und Vermarktungsideen immer weiter ausgereizt, auch dies erfolgreich. Die Geschichte des Stollens ist noch lange nicht auserzählt. Im Gegenteil: die Strahlkraft des traditionsreichen, handwerklichen nimmt nach meiner Wahrnehmung weiter zu, was mich aufgrund meiner emotionalen Verbindung zu diesem Produkt überaus freut. Darüber hinaus finden auch andere, stollenartige Gebäcke wie z.B. die italienische Panettone zunehmend Verbreitung.
1329: Erste urkundliche Erwähnung in Naumburg an der Saale
1429: Heinrich Drasdo erfindet den reichhaltigen Hefestollen mit Zucker und vielen Früchten (Jahreszahl ist eine ungefähre Angabe, historisch nicht belegt)
1430: Gesuch von Kurfürst Friedrich II. an Papst Nikolaus V., den Drasdoer Stollen mit Zucker und Butter im Stollen zu erlauben. Wird abgelehnt. Es folgen viele weitere Gesuche an verschiedene Päpste.
1434: Erster Striezelmarkt in Dresden. Von „Stollen“ war noch mehrere Jahrzehnte nicht die Rede.
1470: Gesuch des Kurfürsten Ernst von Sachsen und seines Bruder Albrecht der Beherzte bei Papst Innozenz VIII., die Butter im Stollen zu erlauben.
1474: Erste urkundliche Erwähnung des Stollens in Dresden
1491: Papst Innozenz VIII. erlaubt die Zugabe von Butter
ca. 1500: In Dresden werden „Christbrod uff Weihnachten“ verkauft
1615: Stollenkrieg der Bäcker aus Siebenlehn, Meißen und Dresden
1648: Die Dresdner Bäcker erhielten das Privileg, ihre Stollen in Dresden zur Zeit des Striezelmarktes ganz alleine verkaufen und hiermit auch den Hof beliefern zu dürfen – die Initialzündung für den Erfolg des Dresdner Stollens.
1727: Der Sächsische Kurfürst August der Starke lässt das Gebäck zur Weihnachtszeit an seinem Hofe reichen. Damit wurde der Stollen in jenen Kreisen, welche sich die kostbaren Zutaten leisten konnten, gesellschaftsfähig.
1730: August der Starke lässt für sein Zeithainer Lustlager einen 1,8 Tonnen schweren Riesenstollen backen.
1938: Lenelies Pause beschreibt in ihrem Buch „Vom königlichen Kindlein. Geschichte um den Christstollen“ die traditionsreiche Stollengeschichte und bildet damit eine Brücke für den heutigen Erfolg.
1990: Im Zuge der Deutschen Einigung wird der zuvor breit verwendete Begriff „Dresdner Stollen“ auf Bäckereien im Raum Dresden beschränkt.
1991: Die Dresdner Bäcker gründen ihren Schutzverband Dresdner Stollen e.V.
1994: Zum 300. Thronjubiläum von August dem Starken richten die Dresdner Bäcker erstmals ein Stollenfest aus und backen hierfür einen Riesenstollen, seitdem jährlich.
1996: Markenschutz für den Dresdner Stollen und verwandte Begriffe
2015: Weltrekord der Stollenvielfalt in Köln, mit 300 verschiedenen Stollen-Spezialitäten.
Weinheim, den 6. Dezember 2020
Bernd Kütscher
Den vorgenannten Ausführungen liegen sehr umfangreiche Recherchen zugrunde, neben den vielen zuvor verlinkten Quellen u.a. auch diese:
– Buch „Populäre sächsische Legenden“ (Henner Kotte)
– Buch „Vom königlichen Kindlein. Geschichte um den Christstollen“
– Beitrag der Historikerin Irene Krauss in „Backwaren Aktuell“ Ausgabe 3/2020
– Bericht aus der ZEIT, Ausgabe 49 des Jahres 1955 (https://www.zeit.de/1955/49/geschichte-vom-stollen)
– http://www.sorvia.de/riesenstollen.html